Blickpunkte der Maler Reinhold Nägele und Fritz Steisslinger
Unterwegs mit dem Böblinger Bilderbogen
Am 28. Januar und 25. März 2023 fanden im Rahmen der Ausstellung »Böblinger Bilderbogen« zwei von Corinna Steimel, Heidrun Behm und Attila Melzer geführte, sehr gut besuchte Spaziergänge zu den Mal-Orten Reinhold Nägeles und Fritz Steisslingers statt.
Fritz Steisslinger – ein Kosmopolit in Böblingen
Ende 1922 bezog der Maler Fritz Steisslinger zusammen mit seiner Familie die von ihm entworfene Künstlervilla in der Böblinger Tannenberg-Siedlung. Auf der Fotografie, entstanden um 1923, blickt er von seiner Ateliergalerie aus über Streuobstwiesen und Felder hinunter zum Stadtkern. In den Zeiten, in denen sich Steisslinger in Böblingen aufhielt, entstanden regelmäßig Ansichten der Stadt, des städtischen Lebens, der historischen Verschiebungen. An dieser Stelle vorab eine Kurzbiografie des Künstlers.
Fritz Steisslinger: Böblingen, vom Oberen See aus, 1943
Steisslingers Stadtansicht von 1943 zeigt Böblingen vor der Zerstörung in der Bombennacht vom 7. auf den 8. Oktober. Der Blick geht über den Oberen See zum Altstadtkern. Die Böblinger Stadtsilhouette war bis zum Zweiten Weltkrieg markant geprägt vom zweiten Rathaus von 1832, der Stadtkirche und dem südlichen Schlossflügel. In dem fast menschenleeren Bild werden durch den Schein der untergehenden Sonne einzelne Häuserbereiche in helles Licht getaucht und dadurch plastisch hervorgehoben. Durch die klare Dreiteilung in Himmel, Schlossberg und den See strahlt das Panorama eine stimmungsvolle Ruhe aus.
Fritz Steisslinger: Blick vom Käppele auf den Böblinger Schlossberg, 1943
Durch den Blick, der das Käppele hinunter über den Postplatz (links die Alte Post) bis hoch zum Kirchturm führt, besitzt das Bild eine enorme Bildtiefe. Es scheint, als würde der Maler über die Szenerie fliegen, um sie dynamisch aus der Vogelperspektive festzuhalten. Alles ist in das warme Licht der untergehenden Sonne getaucht, die teilweise noch die Straße erhellt.
Fritz Steisslinger: Marktplatz in Böblingen, von Osten aus gesehen, 1935/36
Fritz Steisslinger muss beim Malen an der Stelle gestanden sein, an der sich heute Hans Bäurles Plastik »Anklage ohne Worte« (1993) befindet. Das Haus links mit dem Türmchen war das Rathaus. Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wurde wieder ein ähnliches Türmchen auf dem neuen Rathaus errichtet. Die Häuser auf der linken Seite lagen nach dem Krieg vollständig in Trümmern und wurden nicht wieder aufgebaut.
Fritz Steisslinger: Stadtansicht mit dem Grünen Turm, 1937
Die Ansicht zeigt die Auffahrt Turmstraße beim Grünen Turm. Auf historischen Fotografien ist rechts die Fahrrad- und Nähmaschinenhandlung Wilhelm Rexer zu sehen. Links der Auffahrt befand sich dereinst die Buchbinderei und Schreibwarenhandlung Baitinger.
Fritz Steisslinger: Erntedankfest in Böblingen (Hof Feierraum), 1933
Die Kult- und Feierformen der Nationalsozialisten riefen in erster Linie eine emotionale Wirkung hervor. Dadurch sollten Feste und Feiern in den Alltag der Menschen hinein wirken. Bereits 1933 wurden dementsprechend Massenveranstaltungen bis ins kleinste Dorf organisiert. Die Festprogramme fungierten als Sonder- und Aufmarschbefehle. Einige Bilder Fritz Steisslingers dokumentieren genau das. Für die Böblinger Stadtgeschichte sind sie ein besonderer Schatz, da im Stadtarchiv kein Bildmaterial aus dieser Zeit vorhanden ist.
Fritz Steisslinger: Handels- und Gewerbetag in Böblingen, 1933
Ähnlich wie auf dem Bild zum Erntedankfest steht ein Fuhrwerk im Mittelpunkt, hier beladen mit Fässern der Weinhandlung Richard Burkhardt. Es scheint auf das Gebäude links im Bild zuzusteuern: die Weinstube Brenz. Flaggen mit Hakenkreuzen und SA-Mannschaften bestimmen die Szene, sie werden in eine denkwürdige Beziehung zur bildbeherrschenden Bonifatiuskirche gebracht. Mit dem Festtag sollte vermutlich propagiert werden, dass bereits 1933, kurz nach deren Machtergreifung, die Arbeitslosigkeit sank und der Aufschwung in Sicht war.